Dienstag, 4. Oktober 2011

eBooks sind Software


Um die Veränderungen in Verlagen und im Buchhandel durch E-Books zu ermessen, ist der Vergleich zur IT-Branche hilfreich. Meine Prognose: Verlage bieten in einigen Jahren nur noch Software an.

E-Books sorgen in Verlagen und im Buchhandel zunehmend für Unruhe. Es fehlen Erfahrungen sowie gefestigte Branchenstrukturen. Altbewährte Businessmodelle geraten unter Druck. Konträre Meinungen und wackelige Prognosen erhöhen die Unsicherheit. In dieser Phase ist es hilfreich, nach Analogien und verwandten Mustern in anderen Märkten zu suchen. Davon können wir Hypothesen, Strategien und Maßnahmen ableiten.Parallelen zum zukünftigen Verlagsbusiness finden sich in der dynamischen IT-Industrie. Die Computerwelt teilt sich heute weitgehend in Hardware und Software. Nur wenige Firmen, wie zum Beispiel Apple, sind in der Lage, beides erfolgreich anzubieten. In der Frühphase war das anders. Computerhersteller wie IBM, Cray, Wang, Siemens etc. lieferten bis in die späten 1980er Jahre zu ihren Großrechnern auch die passenden Programme. Der Wertschöpfungs-Fokus lag auf der Hardware. Klassische Buchverlage machen es ebenso. Das bedruckbare Papier ist die Hardware. Der Inhalt, neudeutsch Content, ist die Software. Den Verkaufspreis beeinflussen in erster Linie die Hardware (Druckkosten, Logistik etc.) und die Nachfrage, weniger die Kosten für den Inhalt.

In der IT-Industrie hat sich in den letzten 30 Jahren ein starker Wandel vollzogen. Die Hardware-Margen sind extrem geschrumpft. Gutes Geld verdienen die Softwareanbieter. Microsoft, SAP, Oracle, Adobe usw. haben die Welt verändert. IBM und andere mussten sich anpassen oder verschwanden vom Markt. Niedrige Produktions- und Distributionskosten, intelligente Kundenbindungsstrategien sowie die große Installationsbasis durch sinkende Hardwarepreise füllen die Kassen der Programmierer. Die Intelligenz und Effizienz ist heute in den Programmcodes, nicht in den Microchips.
In der Buchbranche erleben wir einen ähnlichen Paradigmenwechsel. Statt das Systemgeschäft aus Hard- und Software zu betreiben, muss zukünftig der Content den Karren allein ziehen. Die alte Hardware „Papier“ verliert rasch an Bedeutung. Und die neue, elektronische Hardware kommt nicht mehr von den Papierproduzenten, Druckereien oder Verlagen, sondern von Drittanbietern wie Apple, Amazon oder Samsung.

Meine Prognose: Verlage bieten in einigen Jahren nur noch Software an. Und zwar Dateien und Anwendungssoftware. E-Books und E-Journals kann man nämlich als solche sehen. Keine Betriebssysteme. Also Textverarbeitung, Computerspiel oder Navigation, nicht Windows, Linux, Android oder OSX. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wer das Betriebssystem baut, sagt, was wie auf der Hardware gespielt wird. Die Anwendungssoftware, neudeutsch Apps, muss sich hundertprozentig danach richten. Oder sie wird dort nicht funktionieren. Wenn es so ist, dann sind für uns Contentanbieter einige strategische Optionen verschlossen. Wer mit Apple verhandelt hat, wird wissen, was ich damit meine. Und es geht nicht nur Verlagen so. Denken Sie an die Tatsache, dass Flash von Adobe nicht auf iPhones läuft, weil Steve Jobs diese Technologie für minderwertig hält.

Betrachten wir in einer Arbeits-Hypothese E-Books und E-Journals als Anwendungssoftware. Tun wir so, als seien die Bits und Bytes eines Roman-E-Books nicht anders als eine Textverarbeitung wie Microsoft Word. Übertragen wir einige Fakten aus der IT-Industrie auf unseren Content. Daraus ergeben sich exemplarisch dargestellte, tiefgreifende Veränderungen im Buchgeschäft.
Software verlangt hohe technische Kompetenz
Funktionen und Inhalte einer Software sind wichtig. Die meisten Softwareprojekte scheitern jedoch an den technischen Herausforderungen und suboptimalem Projektmanagement. Anbieter und Anwender von E-Books müssen technikaffin sein und entsprechendes Know-how besitzen. Auf der Entwicklungsseite werden clevere DV-Projektleiter tätig sein. Auch im Top-Management braucht es exzellentes Computerwissen. Erfolgreiche Verlage definieren sich zukünftig über hervorragende IT-Kompetenz, um die richtigen Produktstrategien und elektronischen Angebote entwickeln zu können. Outsourcing allein reicht nicht mehr.

Wir verkaufen keine Ware, sondern eine Nutzungslizenz
Software, zumal wenn sie online verkauft wird, kann man nicht anfassen. Der Kunde erwirbt einen Lizenzcode und beschränkte Nutzungsrechte. Dazu muss er sich beim Shop und/oder dem Händler registrieren. Für den Buch-Käufer bedeutet das, er ist nicht mehr anonym. Und Verlage sowie Handel werden die Nutzerdaten für Marketingzwecke einsetzen.
Software ist abhängig von anderer Software und der Hardware
Eine Software kann noch so gut sein. Wenn sie nicht ins Konzept verbreiteter Hardware sowie Systemsoftware passt, wird sie kein Erfolg. Jeder Anbieter tut gut daran, sich an technische Standards zu halten und andere Softwareentwickler über Schnittstellen einzuladen (z.B. Plug-Ins). Offenheit gegenüber Systemlösungen ist ein Wettbewerbsvorteil.
Benutzerfreundlichkeit spielt eine wichtige Rolle
Die nützlichste Anwendungssoftware ist nichts wert, wenn die User sie nicht bedienen können. Was früher Buchkunst war, geht jetzt in Richtung Usability. Der Leser erlebt die Nutzungsqualität des Inhalts bei der Interaktion mit seinem System. Wenn die Bedienbarkeit zur großen Hürde wird, ist Otto Normalleser weg.
Software ist ein Service
Die Daten werden immer weniger auf der Anwender-Hardware, den Clients, gespeichert. Beim Cloud Computing wird die Software sowie Infrastruktur von einem externen IT-Dienstleister betrieben und vom Kunden als Service über einen Web-Browser genutzt. Der Betreiber garantiert hohe Verfügbarkeit. Statt einem Bücherregel zu Hause hat der Leser seine E-Book-Mietbibliothek in Netz.
Das Software-Business ist schnelles Geschäft
Der Kunde erwartet von Software die permanente Erweiterung des Leistungsspektrums. Featurelisten werden länger, Produktzyklen kürzer. Mitbewerber nutzten jedes Leistungsloch, um eigene Angeboten zu platzieren. Besonders anschaulich ist das aktuell im Markt der Navigationslösungen. Es ist unwahrscheinlich, dass die E-Book-Kunden auf Dauer mit reinem Fließtext und ein paar Abbildungen zufrieden sind. Der Epub-Standard z.B. wird sich weiterentwickeln in Richtung „Enhanced E-Books“.
Software ist international
Die großen Software-Anbieter kommen, sieht man von SAP ab, nicht aus Deutschland. Um die Entwicklungskosten finanzieren zu können, muss Anwendungssoftware auf den Weltmarkt. Die Lokalisierung macht, falls notwendig, der Hersteller selbst. Wenn möglich wird die Ware nur in englischer Sprache international über das Internet vertrieben. Da immer mehr Erdenbürger, die Software nutzen, Englisch können, stellt die Sprachbarriere ein abnehmendes Problem dar. Das könnte bei E-Books ähnlich werden und zumindest die Verkaufschancen von ins Deutsche übersetzter Literatur schmälern. Die hiesigen Verlage könnten im Gegenzug die Übersetzung deutschsprachigen Contents selbst in die Hand nehmen. Schließlich ist der weltweite Vertrieb von E-Books bereits heute möglich.
Software hat Betatester
Vor der Veröffentlichung werden zukünftige Nutzer gebeten, die Software live zu testen und zu kommentieren. Solche Markt- und Techniktests sind auch für E-Books möglich. Schon der Autor könnte ein frühes Manuskriptstadium bei Bookrix, Amazon etc. im Selfpublishing zum Feedback einstellen.
Software entwickelt sich über Updates
Kaum eine Anwendungssoftware kommt ausgereift auf den Markt. Die Kunden finden die Fehler, melden diese und erhalten Bug-fixes sowie Patches vom Hersteller. Innerhalb eines bestimmten Release-Zeitraums gibt es kostenlose Updates, die den Funktionsumfang absichern bzw. erweitern. E-Books müssen sich diesen dynamischen Prozess unterwerfen, wenn sie auf verschiedenen (zukünftigen) Hardware-Plattformen lauffähig sein sollen.
Software verkauft sich kaum (noch) in stationären Handel
Software-Vertrieb findet größtenteils im Internet statt. Dadurch wird ein teurer Medienbruch vermieden (digitale Ware als CD-Rom in einer Verkaufsverpackung). Verkaufsgespräche finden nicht statt und der Kunde wird via Shop ins Lizenzsystem des Anbieters integriert. Bei E-Books erleben wir es ebenso. Vielleicht lassen sich im stationären Handel noch ein paar Gutscheinkarten, wie von iTunes, verkaufen. Bestellt, verteilt und abgerechnet wird im WWW.
Testversionen überzeugen den Kunden
Da es kaum Beratungsgespräche mehr gibt für Anwendungssoftware, muss der Kunde sich selbst vom Leistungsumfang überzeugen. Dazu gibt es zeit- oder funktionsbegrenzte Testversionen. Bei Gefallen erwirbt der Käufer die Voll-Lizenz. Im E-Book-Marketing kommt den Leseproben daher größere Bedeutung zu.
Software wird raubkopiert
Zu diesem „Naturgesetz“ muss man fast nichts mehr sagen. Etliche Software-Anbieter, wie Microsoft, sind mit bzw. trotz Raubkopieren groß geworden. Für die E-Books der Verlage könnten die Raubkopien, wie schon in der Musikindustrie, zum Renditekiller werden. Immer ausgefeiltere Kopierschutzlösungen sind leider keine Option, damit vertreibt man auch die ehrlichen Käufer.
Software wird immer billiger
In den letzten Jahren hat der Kampf um Marktanteile in der Softwarebranche zu deutlichen Preisreduzierungen geführt. Kommerzielle Angebote werden massiv von OpenSource unter Druck gesetzt. Stabile Lizenzpreise lassen sich immer weniger durchsetzen. Die Kunden erwarten, dass Software billig wird. Start-ups sowie Hinterhof-Programmierer nutzen jede Chance. Hardware-Hersteller koppeln Anwendungssoftware vorinstalliert an Geräte. Bezahlmodelle wie Pay-per-use oder Miete erschweren die Refinanzierung. Apps werden zu Cent-Artikeln. All das werden wir möglicherweise auch im E-Book-Sektor erleben. Die Ware Buch, egal ob digital oder gedruckt, wird ökonomisch entwertet.
Software braucht Support
Da Hardware- und Betriebssystem-Umgebungen heterogen sind, sich technisch weiterentwickeln, unerwartete Fehler auftreten, viele Nutzer ungeschult sind bzw. keine Handbücher lesen, muss der Software-Anbieter seinen Kunden ein Mindestmaß an Hilfe anbieten. Dieser Support kostet Geld und muss in die zukünftige Buchkalkulation einbezogen werden. Es ist kaum zu erwarten, dass der Online-Handel diese Funktion und die entstehenden Kosten übernimmt.
Mein Fazit: Die Buchbranche nähert sich durch E-Books und E-Journals der dynamischen IT-Industrie. Deren fremde Marktmechanismen beeinflussen unsere jahrhundertealten Spielregeln. Das führt anfänglich zu Ablehnung. Widerstand wird nicht erfolgreich sein. Mittel- und langfristig wird das Verlagsbusiness zu einem Teil der großen Softwareindustrie. Wer diesen Anpassungsprozess genau reflektiert und sorgfältig plant, findet in der IT-Industrie interessante Vorbilder. Von deren Verhaltensweisen lassen sich clevere neue Wege ableiten.
Wie ist Ihre Meinung dazu? Ich freue mich auf Ihr Feedback. 
(Dieser Beitrag wurde erstmals am 29.9.2011 auf buchreport.de 
veröffentlicht)